Hörschädigungen

Wikipedia bietet mehrere Seiten, um sich im Internet über Hörschädigungen zu informieren (z.B. Schwerhörigkeit). In unseren Links verweisen wir auf weitere interessante Seiten.

Ein nach wie vor hervorragender Einstieg in das Thema ist der Vortrag „Hörschädigungen“ von Hartwig Claußen (1982-1995 Professor für Schwerhörigenpädagogik an der Universität Hamburg, † 2006). Dieses Referat wurde von ihm anlässlich einer Informationsveranstaltung für die Landessynodalen der bayerischen Landeskirche gehalten. Das vollständige Referat können Sie sich als pdf-Datei herunterladen, nachfolgend finden Sie Auszüge (Hervorhebungen durch die Redaktion).

 

Prof. W. Hartwig Claußen: Menschen mit einer Hörschädigung

Im Folgenden ist die Rede von Personen, deren Hörvermögen so sehr von der Norm abweicht, dass sie nicht nur für kurze Zeit Schwierigkeiten haben, das Sprechen ihrer Mitmenschen zu verstehen. Eine Hörschädigung ist vor allem eine Kommunikationserschwerung. [...]

Dennoch bestehen nicht nur zwischen Guthörenden und Hörgeschädigten, sondern auch zwischen den hörgeschädigten Menschen kommunikativ bedeutsame Unterschiede, die schon immer dazu geführt haben, die Gruppe der Hörgeschädigten in Untergruppen zu aufzuteilen.

Die klassische Unterteilung ist die in Gehörlose, Schwerhörige und Ertaubte beziehungsweise Schwerhöriggewordene.

Als Gehörlose bezeichnete man Personen mit einem seit der Geburt bestehenden Hörverlust über 90 dB. Sie können ihr eigenes Sprechen nicht mehr hinreichend differenziert wahrnehmen, um auf Grund dieser Höreindrücke die Lautsprache, also in unserem Falle das Deutsche, auf natürlichem Wege zu erwerben. Ihr Spracherwerb kann sich kaum auf auditive Eindrücke stützen. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung liegt unter 1‰.

Als Schwerhörige bezeichnete man Personen, die seit ihrer Geburt so stark in ihrem Hörvermögen eingeschränkt sind, dass sie die Sprache ihrer Mitwelt nicht mehr hinreichend differenziert wahrnehmen können, um quasi nebenbei, wie es bei gut hörenden Kindern üblich ist, die Sprache ihrer Mitmenschen zu erlernen. Sie bedürfen ausgeklügelter methodischer Hilfen, um die Lautsprache so weit zu erlernen, dass sie einen in normalen Situationen unauffälligen Gebrauch von ihr machen können. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung liegt bei etwa 2‰.

Die dritte Gruppe, die Ertaubten und Schwerhöriggewordenen, haben ihre Hörschädigung erfahren, nachdem sie die Sprache erlernt hatten, also etwa ab dem 4. Lebensjahr. Sie verfügen über die Sprache ihrer Mitwelt, beherrschen also das Deutsche. Dennoch wirkt auch bei ihnen die Hörschädigung als eine Barriere, die das Verstehen gesprochener Sprache erheblich erschwert, vor allem in Gruppengesprächen oder wenn der Sprecher nicht sichtbar ist. Das ist zum Beispiel im Radio und meistens auch im Fernsehen der Fall. Im Gegensatz zu Gehörlosen, aber auch zu den Schwerhörigen, deren Sprachkompetenz mehr oder weniger eingeschränkt ist, können die Ertaubten und Schwerhöriggewordenen Informationen, die ihnen schriftlich vorgelegt werden, relativ problemlos aufnehmen – in etwa wie Guthörende. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung liegt bei etwa 20%. [...]

Die Begriffe „gehörlos“, „schwerhörig“ und „ertaubt“ sind aus pädagogischer Sicht daher nicht mehr zur Kennzeichnung der verschiedenen Untergruppen Hörgeschädigter geeignet. [...]

Ein Kriterium, das wesentliche Unterschiede sehr viel zutreffender erfasst, ist der Sprachgebrauch. Es ist ein entscheidender Unterschied, ob eine hörgeschädigte Person in Gebärdensprache kommuniziert und denkt, oder in Lautsprache, also dem Deutschen. Aus dieser Differenz ergeben sich wesentliche Folgen für die psychosoziale Situation, die sich im Erwachsenenalter verstärkt auswirken. [...]

Die Eigenständigkeit der Gebärdensprache hat zur Folge, dass sie den Zugang zu schriftlichen Texten in deutscher Sprache kaum ermöglicht. Ferner ist es schwierig, religiöse Begriffe angemessen in die Gebärdensprache zu übertragen, zumal es Hörgeschädigten ganz allgemein erhebliche Schwierigkeiten bereitet, ihren Sinngehalt zu erschließen.

Bezeichnend ist der enge Zusammenhalt der gebärdensprachlich ausgerichteten Menschen, die für sich in Anspruch nehmen, eine eigene „Gehörlosenkultur“ zu leben. Anders gesagt, es besteht eine starke Tendenz zur Abgrenzung innerhalb der Gesellschaft. Der Informationsaustausch mit der Gesamtgesellschaft ist beidseitig begrenzt, was zuweilen zu Missverständnissen und Fehlinterpretationen führt. [...]

Die große Mehrheit aller hörgeschädigten Menschen hat den Hörverlust nach dem Spracherwerb erlitten. Hinzu kommen die Personen, die trotz früher eingetretener Hörschädigung die Lautsprache, also zum Beispiel das Deutsche, so weit erworben haben, dass es für sie nicht nur der wichtigste Träger der Kommunikation, sondern auch des Denkens ist. [...] Bei ihnen ist eine sehr starke Neigung festzustellen, sich gesellschaftlich zu integrieren. Sie tendieren eher dahin, möglichst nicht aufzufallen, statt eine eigene „Hörgeschädigtenkultur“ anzustreben. [...] Die Verdrängung der bestehenden Hörschädigung führt nur zu leicht in ein Leben des „als ob“: man tut so, als ob man verstanden habe, und man kaschiert mit allen zur Verfügung stehenden Mittel die tiefe Einsamkeit, in der viele dieser Hörgeschädigten leben – selbst wenn sie Außenstehenden als gut in ihre Familie integriert erscheinen. [...]

Zusammenfassend ist also festzustellen, dass es etwa 20% hörgeschädigte Menschen in Deutschland gibt. Davon ist eine sehr kleine Minderheit gebärdensprachlich ausgerichtet und bedarf daher für ihre seelsorgerliche Betreuung Gesprächspartner, die der Gebärdensprache mächtig sind. Die überwältigende Mehrheit ist lautsprachlich ausgerichtet, ganz überwiegend nach dem Erwerb der Lautsprache hörgeschädigt geworden, und verfügt über keine gebärdensprachliche Kompetenz. Dennoch bringt sie die Schwierigkeit, gesprochene Sprache zu verstehen, und die dadurch bedingte Gefahr einer Häufung von Missverständnissen in schwerwiegende psychosoziale Probleme, deren Bewältigung auf Seiten des guthörenden Seelsorgers ein ausdifferenziertes Fachwissen und ein hohes Maß an situativem Einfühlungsvermögens erfordert.