Was ist Schwerhörigkeit?

(Thomas Kluck, September 2024)

Medizinische Begriffsbestimmungen von "Schwerhörigkeit" finden sich im Netz zuhauf. Diese Abhandlung soll dem keine weitere Wiederholung hinzufügen, sondern versuchen, ein Bild vom Erleben und der Befindlichkeit schwerhöriger Menschen zu zeichnen. Eine hervorragende Zusammenfassung findet sich bei Rehadat. [1]
Zum Verständnis greife ich hier an verschiedenen Stellen natürlich auf medizinische und audiologische Konzepte zurück.

Schwerhörigkeit hat viele Gesichter. Praktisch genauso viele, wie es schwerhörige Menschen gibt! Die jeweiligen Bedürfnisse zu ihrer Bewältigung verteilen sich über ein breites Spektrum, was es schwierig macht, mit Pauschallösungen Erleichterungen zu verschaffen.

Es gibt dennoch etliche Gemeinsamkeiten und bei diesen möchte ich ansetzen, um das Phänomen "Schwerhörigkeit" zu beschreiben. Dabei ist eine Begriffsbestimmung hilfreich, von der ich in der weiteren Beschreibung ausgehe:

Definition

Als schwerhörig werden diejenigen Personen bezeichnet, die infolge eines vorübergehenden oder andauernden Defektes des Gehörs eine verminderte Hörfähigkeit besitzen, aber noch imstande sind, akustische Eindrücke und Sprache – eventuell mit Hilfe von Hörgeräten – über das Ohr wahrzunehmen. [2]

Diese Begriffsbestimmung hebt sich gegenüber anderen Definitionen dadurch hervor, dass die Gehörlosigkeit (technisch: Hörverlust auf dem besserhörenden Ohr von mehr als 90 dB, nähere Erläuterungen s.u.) nicht mitgemeint ist. Aus gutem Grund: Auch wenn dasselbe Organ betroffen ist, unterscheiden sich die Gehörlosigkeit und ihre Auswirkungen und damit die Bedürfnisse der Betroffenen in wesentlichen Aspekten deutlich von der Schwerhörigkeit. Die allermeisten Schwerhörigen kommunizieren in der normalen Lautsprache (gegebenenfalls mit Unterstützung von lautsprachlich begleitenden Gebärden, LBG), während die "Muttersprache" der Gehörlosen eine spezialisierte visuelle Sprache ist. Dies ist in Deutschland die Deutsche Gebärdensprache (DGS), die als eigenständige Sprache gesetzlich anerkannt ist [3].

Schlechtes Hören setzt sich zusammen aus der Schalleitungsschwerhörigkeit einerseits und der Schallempfindungsschwerhörigkeit andererseits. Bei der Schalleitungsschwerhörigkeit wird das Gehörte nicht richtig vom Gehörgang und Trommelfell zum Innenohr (via Gehörknöchelchen) übertragen. Die Betroffenen hören leiser, aber die Qualität bleibt weitgehend erhalten. Stecken Sie sich die Finger oder Ohropax in die Ohren, haben Sie eine Vorstellung von dieser Störung.

Bei der Schallempfindungsschwerhörigkeit hingegen ist die Signalaufnahme im Innenohr oder die nachfolgende Verarbeitung durch Hörnerv oder Gehirn selbst gestört. Die Schallsignale kommen zwar ungestört am Trommelfell an und werden durch die Gehörknöchelchen weitergeleitet, aber anschließend verändert auf- und wahrgenommen. Das Klangbild und insbesondere die Qualität des Gehörten sind je nach Schwere mehr oder weniger stark verzerrt, bis hin zur Unhörbarkeit.

Von der Schalleitungsstörung sind etwa 5 % der Schwerhörigen betroffen, mehr als 95 % leiden an der Schallempfindungsschwerhörigkeit, wobei Mischformen sehr häufig sind.

Die Ursachen für einen Hörverlust sind vielfältig, hierzu finden sich auf den einschlägigen Seiten im Internet oder in medizinischen Ratgebern viele Hinweise. Was die Heilung betrifft: die normale Hörfähigkeit kann mit medizinischen oder chirurgischen Mitteln nicht wiederhergestellt werden. Betroffene sollten alle vorhandenen Möglichkeiten nutzen, um einen bestmöglichen Ausgleich der Behinderung zu erreichen. Dazu gehören die Versorgung mit Hörgeräten, Cochlea-Implantaten und anderen Hörhilfen, ggf. Hörtraining sowie bei Kindern qualifizierte fachliche Hilfe bei der Erziehung und idealerweise der Besuch einer Schule, die die speziellen Bedürfnisse hörgeschädigter Kinder sowohl im Unterricht als auch begleitend dazu vollumfänglich (und nicht nur punktuell!) berücksichtigt.

Da die Werbung der Akustiker und Hörgerätehersteller meist ein verzerrtes Bild zeichnet, muss an dieser Stelle deutlich gesagt werden: Auch mit Hörgeräten, Cochlea-Implantaten und anderen Hörhilfen kann ein Hörgeschädigter nicht wieder normal hören! Oft wird der Vergleich zu Brillen gezogen: Mit einer Brille kann eine Sehstörung behoben werden, der Betreffende kann wieder "normal" sehen. Das wird dann naiverweise auf Hörgeräte übertragen: Wer ein Hörgerät trägt, kann also auch wieder gut hören. Nichts ist weiter von der Wirklichkeit entfernt.

Der Vergleich hinkt nämlich und kann allenfalls bei leichter Hörbeeinträchtigung durchgehen. Bereits bei mittelgradigen und erst recht bei höhergradigen Hörverlusten müssen, wenn überhaupt, Analogien zu Sehbehinderten gezogen werden: Bei diesen kann eine Brille das normale Sehvermögen eben nicht mehr wiederherstellen.

Technisch-medizinisch wird Schwerhörigkeit mit einer Hörverlustmessung erfaßt und grafisch in einem sogenannten Audiogramm dargestellt (anklicken zum Vergrößern):

 

Der grau unterlegte Bereich von 0 bis -20 dB zeigt den Bereich des gesunden Hörens. Die obere, rote Kurve verläuft vollständig innerhalb der grauen Zone und bedeutet daher Normalhörigkeit. Je weiter eine Kurve nach unten geht, umso größer ist der Hörverlust, der in deziBel (dB) angegeben wird (y-Achse). Die mittlere blaue Kurve zeigt einen geringgradigen, die untere Kurve einen mittelgradigen Hörverlust an.

Für die Ermittlung des Hörverlustes und indirekt daraus des Grades der Behinderung (GdB) werden die Werte bei 500, 1000, 2000 und 4000 Hz herangezogen (schwarz umrandeter Kasten). Für das persönliche Empfinden ist aber natürlich der gesamte Verlauf der Hörkurve maßgeblich.

Auswirkungen der Schwerhörigkeit

Schwerhörigkeit kann und darf allerdings nicht rein medizinisch gesehen werden. Insbesondere dann nicht, wenn sie bereits im Kindes- oder Jugendalter auftritt. Der Verlust des Hörens als dem Haupt-Sinnesorgan des Menschen betrifft vor allem die Kommunikation mit Mitmenschen, kann soziale Störungen und Veränderungen in der Psyche der Betroffenen bedeuten. Schwerhörigkeit ist also nicht nur eine Sinnesbehinderung, sondern viel mehr eine soziale Behinderung, da die Gesellschaft nach wie vor hörzentriert ist, d.h. Zusammenleben und Zusammenhalt sind vom gesprochenen und gehörten Wort geprägt.

Wo dies gestört ist, ist ein "normales" Miteinander nicht möglich. Wer also schwerhörige Kinder und Erwachsene als "normale Menschen, die bloß ein bißchen schlecht hören" ansieht und behandelt, kann ihnen kaum gerecht werden.

Das wird durch die folgende, aus der Sonderpädagogik stammende Darstellung sehr gut umschrieben:

Die eigentliche Behinderung bei Hörgeschädigten ist nicht — wie bei Sehbehinderten — die Einschränkung oder der Ausfall eines Sinnes, sondern die daraus resultierende eingeschränkte Kompetenz in Sprachwahrnehmung, Sprachverfügbarkeit und Sprechfähigkeit mit allen Folgen auf die psychische und soziale Entwicklung. Hörbehinderte Menschen sind also nicht normale Menschen mit reduziertem oder ohne Gehör, sondern Menschen, die in der Kommunikation mit Hörenden behindert und in ihrer gesamten Entwicklung gravierend beeinflusst sind. 4

Der Umgang mit Mitmenschen, insbesondere nichtschwerhörigen, erfordert von Schwerhörigen eine dauernde geistige und körperliche Anstrengung, um sozusagen am Ball bleiben zu können. Dies umso mehr, je ausgeprägter der Hörverlust ist. Ein berühmt gewordenes und bis heute immer gerne wiederholtes Zitat drückt dies prägnant aus:

Es ist Schwerstarbeit, wissen Sie, als Hörgeschädigter mit jemandem zu reden. Ich versuche dauernd zu hören, was Sie sagen; man kann sich mit jemand einfach nicht entspannt unterhalten, wenn man auf der Stuhlkante sitzt, lauert, horcht und dauernd denkt: "Hab' ich das richtig verstanden?" oder " 'tschuldigung, was haben Sie gesagt?" Das ist alles reine Schinderei, am Ende denkt man: "Oh verflucht, ich möchte allein sein und wieder zu Atem kommen. [5]

Brücken bauen

Die Menschen im Umfeld von Schwerhörigen können ihnen helfen, starken Streß abzuschwächen und schneller Erschöpfung vorzubeugen. Das gelingt, wenn die folgenden Regeln im Gespräch, im Unterricht, im Gottesdienst oder bei Vorträgen berücksichtigt werden:

  1. Ihr Gesicht sollte ausreichend beleuchtet sein.
  2. Ihr Mundbereich sollte vollständig sichtbar sein (Hand oder Mikrofon nicht vor den Mund halten).
  3. Reduzieren Sie Nebengeräusche soweit wie möglich (Fenster oder Türen schließen, Musik leiser oder aus; wenn möglich, aus einem lauten in einen ruhigeren Raum gehen).
  4. Halten Sie Blickkontakt beim Sprechen.
  5. Sprechen Sie entspannt, artikulieren Sie gut (nicht laut werden, keine übertriebenen Mundbewegungen).
  6. Werden Sie gebeten zu wiederholen, tun Sie das möglichst mit denselben Worten.

Im öffentlichen Raum (Schulen, Behörden, Theater, Kinos, Kirchen ...) kann neben dem persönlichen Entgegenkommen mit Hilfe moderner Technik viel getan werden, um schwerhörigen Menschen das Dazugehören zu ermöglichen. Das wird Thema für einen eigenen Beitrag sein.

Quellen

[1] https://www.rehadat-wissen.de/ausgaben/09-hoerbehinderung/, Stand 16.9.2024
[2] Quelle: Jussen, H.: Schwerhörige und ihre Rehabilitation, In: Deutscher Bildungsrat (Hrsg.), Gutachten und Studien der Bildungskommission. Bd. 30, Stuttgart 1973, S. 185-316
[3] Behindertengleichstellungsgesetz, § 6
[4] Hansen, G. / Stein, R. (1997): Sonderpädagogik konkret: ein Handbuch in Schlüsselbegriffen. 2.Auflage. Verlag Klinkhardt. Bad Heilbrunn.
[5]Jones, Lesley: Wie wird Hörverlust empfunden? - Aussprache über die Erfahrungen von Hörenden und Schwerhörigen, in: Verch, Klaus (Hrsg.): Rehabilitation Schwerhöriger, Ertaubter und Gehörloser. Internationale Tagung vom 20. April bis 24. April 1989 in Bad Berleburg (1989), S. S. 123-138 (hier S. 130)

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