(Thomas Kluck, 5.7.2024)
Informieren sich Kirchengemeinden oder Pfarrer über Möglichkeiten, ihre Veranstaltungen auch für ihre hörgeschädigten Besucher zugänglich zu machen, hören sie immer häufiger den Begriff "Auracast". Insbesondere von Akustikern wird ihnen zunehmend empfohlen, Auracast zu installieren anstelle von induktiven Höranlagen.
Mit "Auracast" wird eine neue Erweiterung der Bluetooth Low Energy-Technik (BLE) bezeichnet. Bisher muss zur Audioübertragung via Bluetooth der Sender mit einem Lautsprecher, Kopfhörer, Smartphone, Hörsystem etc. koppeln ("Pairing"). Das System ist vor allem für den persönlichen Bereich konzipiert (Telefonieren, Fernsehen, Radiohören, Musikplayer etc.). Die Zahl der Empfangsgeräte, die an einen Bluetooth-Sender ankoppeln können, ist begrenzt.
Auracast hingegen stellt einen Rundfunksender dar. Beliebig viele Auracast-fähige Geräte wie Kopfhörer, Lautsprecher, Hörsysteme etc. können ein von einem Auracast-Sender übertragenes Audioprogramm ("Stream") empfangen. Das kann beispielsweise ein Vortrag bei Konferenzen, eine Predigt im Gottesdienst oder der Ton eines Films im Kino sein. Auch Anzeigen, Beschilderungen oder Reklametafeln können mit Ton versehen werden, der über Auracast in die Umgebung abgestrahlt wird. Eine Kopplung wie beim bisherigen Bluetooth entfällt. Mit einer Reichweite von bis zu 100 m bei guten Verhältnissen im Freien ist Auracast für Anwendungen in der Öffentlichkeit prädestiniert, wohingegen das herkömmliche Bluetooth eine Reichweite von typischerweise 10 m hat.
Welchen Nutzen hat diese junge Technik nun speziell für Hörbehinderte? Dies muss insbesondere deshalb gefragt werden, weil Auracast nicht speziell für hörgeschädigte Menschen entwickelt wurde wie beispielsweise induktive Höranlagen. Viele Hörgeräte- und Cochlea-Implantat (CI) -Träger brauchen bei öffentlichen Veranstaltungen wie Gottesdiensten zusätzliche Unterstützung zum Verstehen (Stichworte Hall und Cocktailparty-Effekt). Dafür kamen bisher vorzugsweise induktive Höranlagen in Betracht oder Funkübertragungsanlagen. Nun kommt auch Auracast ins Spiel, welches sich durch aggressives Marketing auch bei Akustikern als Nonplusultra in der Hörunterstützung darstellt.
Dabei gibt es weder Hörgeräte noch erschwingliche Smartphones mit Auracast (Stand Juni 2024). Lediglich wenige High-End-Smartphones von gerade einmal zwei Herstellern sind mit Auracast ausgestattet. Gleiches gilt für Hörgeräte: Über eine Auracast-Vorbereitung verfügen nur ausgewählte Premium-Modelle einiger weniger Hörgerätefabrikanten. Bei diesen Geräten ist Auracast noch nicht funktionsfähig, es muss erst entsprechend programmiert und freigeschaltet werden. Wann das der Fall sein wird, ist offen.
Wenn sie erhältlich sind, sind diese Hörgeräte nur mit Zuzahlung zu bekommen, da Auracast (wie auch Bluetooth) von den Kassen als Komfort-Merkmal betrachtet und daher nicht finanziert wird. In zuzahlungsfreien Basishörgeräten ist Auracast nicht verfügbar und wird es auf absehbare Zeit auch nicht sein. Die notwendigen hohen Zuzahlungen sind für einen Großteil der Hörbehinderten und insbesondere auch für Rentner nicht finanzierbar. Da hier Geld zu einem Kriterium für Teilhabe gemacht wird, ist die Technologie sozial ausgrenzend.
Auracast ist eine digitale Technologie, wie auch z.B. WiFi (WLAN-Streaming). Die Signalwege sind daher mit einer sogenannten Latenz behaftet, d.h. ein Ton erfährt zwischen der Signalquelle (z.B. dem Sprecher) und dem Empfangsgerät (Hörgerät oder CI) eine Verzögerung. Die Latenz ist – im Gegensatz zu analogen Signalwegen – immer vorhanden und läßt sich auch nicht beliebig minimieren. Zwar ist sie bei Auracast-Übertragung niedriger als z.B. beim WLAN-Streaming, aber selbst bei Erreichen der theoretisch möglichen unteren Grenze immer noch so groß, dass Guthörende mit Kopfhörer oder Hörgeräteträger mit offenen Ohrstücken das Gesagte immer zweimal hören: Einmal von der Originalquelle und den Lautsprechern, dann als Echo, wenn es schließlich über Auracast-Kopfhörer oder Auracast-Hörgeräte ins Ohr kommt. Haben die Lautsprecher in großen Räumen (Kirchenschiffe) keinen Laufzeitausgleich, hören diese Leute den Ton sogar dreimal.
Für viele Schwerhörige ist das Ablesen (alleine oder in Kombination mit dem Hören) unabdingbar für das Verstehen. Die Latenz von Auracast macht ein Ablesen von Mund oder Gesicht praktisch unmöglich.
Den eigenen Redebeitrag hört ein Sprecher in einer Auracast-Umgebung ebenfalls ein zweites Mal als Echo: Die eigene Stimme wird kurz nach dem Sprechen noch einmal gehört, was den Redefluss erheblich stört. Vielleicht etwas übertrieben, aber sehr anschaulich kann man sich die Latenz bei einem Fernsehkrimi vorstellen: Der Zuhörer sieht das Opfer umfallen und hört dann erst den Schuss.
Um Auracast einzusetzen und nutzen zu können, muss eine Gemeinde oder Kirche einen Auracast-Sender (Streamer oder einen professionellen Transmitter) aufstellen und einrichten, der an die kircheneigene Lautsprecheranlage angeschlossen ist. Die Schwerhörigen benötigen einen Auracast-Empfänger. Das können Kopfhörer, Smartphones oder Hörgeräte und Cochlea-Implantate sein. Ein Smartphone wird in jedem Fall benötigt, denn der gewünschte Auracast-Stream läßt sich nur über eine entsprechende App auswählen. Je nach Umsetzung von Auracast durch die einzelnen Hörgeräte-Hersteller wird unter Umständen sogar ein neues Smartphone fällig, um Auracast in Hörgeräten und CIs überhaupt nutzen zu können.
Wo bislang für die Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen, politischen und religiösen Leben dank induktiver Technik das Hörgerät mit der Telespule ausgereicht hat, wird durch Auracast von Betroffenen zusätzlich ein Smartphone zwingend benötigt. Damit ist Auracast weder im rechtlichen Sinne noch sozial barrierefrei.
Fazit: Mit seinen Latenzen ist Auracast für Hörbehinderte nur mit Einschränkungen nutzbar und durch den Zwang zum Smartphone auch nicht barrierefrei. Es macht darüberhinaus keinen Sinn, jetzt eine Technik zu installieren, die erst in sechs bis zehn Jahren von einer breiteren Masse genutzt werden kann. Solange dürfte es mindestens noch dauern, bis bezahlbare Endgeräte, Hörgeräte und CIs erhältlich sind. Auch dann wird Auracast eher zusätzlich zu induktiven Höranlagen eingesetzt werden, anstatt diese zu verdrängen.
Wer sich tiefer mit der Materie auseinandersetzen möchte, dem sei das angehängte Booklet empfohlen, in dem auch viele technische Details besprochen werden. Der vorliegende Artikel entstand aus der Motivation, die Inhalte des Booklets in knapper Form wiederzugeben.
Für die Erstellung wurde keine KI in irgendeiner Form genutzt.
Das Themenbild „question face“ von mistergesl ist lizenziert unter CC BY-NC-SA 2.0.